Autschs und Aahs glaubt man zu hören, es quietscht unter den Sohlen. Sind es die 60 mal 60 Zentimeter großen Platten oder die armen Menschen, denen man da permanent in die Fresse tritt? Bald will man nicht mehr weitergehen, versucht zwanghaft nur die weißen Felder zu betreten, verzieht selbst das Gesicht, geht auf Zehenspitzen, hält die Luft an, versucht, sich leichter zu machen ...

Selten war es komplizierter, eine Ausstellung zu besuchen. Bernardí Roig hat uns in die Lonja gelockt, mit seinem „Walking on faces"-Projekt, wir sind gerne hingegangen, die Türen stehen ja auch sperrangelweit offen, kein Tresen, kein Eintrittsgeld, man kann einfach so reingehen in den 800 Quadratmeter großen, lichtdurchfluteten, gotischen Raum. Er wirkt so einladend, wie herrlich, man möchte tanzen.

Wären da nur nicht diese 1.702 Knautschgesichter, die aussehen, als ob sie gerade eine Krampf hätten, oder, wie der 46-jährige Mallorquiner sagt, „als ob sie die Außenwelt gar nicht wahrnehmen wollten." Drei Gesichter hat er im Frühjahr seinen Laienmodellen gezeigt, und sie sollten versuchen, eines nachzumachen. Es waren Gesichtsdarstellungen des deutsch-österreichischen Bildhauers Franz Xaver ­Messerschmidt.

Der verdingte sich im 18. Jahrhundert als Bildhauer in Wien, unter anderem auch am Hof. Ob ihm das ewige Abbilden adliger Gesichter oder eine chronische Darm­erkrankung das Dasein versauerten, ist nicht restlos geklärt. Fest steht, dass er sich aus Wien zurückzog und in seinen letzten Lebensjahren jene rund 50 Werke schuf, für die Messerschmidt berühmt wurde: die Charakterköpfe. Sie drücken Gefühlszustände aus, wirken grotesk in ihrer Übertriebenheit. Sie haben nachkommende Künstler fasziniert, darunter den zeitgenössischen Maler Arnulf Rainer, der Fotos von Messerschmidts Grimassen übermalte. Ende der 80er Jahre hat Roig über Rainers Werk die verzerrten Gesichter des Barockmalers kennengelernt „und irgendwo in meinem Gedächtnis gespeichert", wie er sagt. Abgerufen hat er sie, als ihm die Gestaltung der ehemaligen Seehandelsbörse La Llotja (auch La Lonja) angetragen wurde. Ein Raum, so Roig, „der eigentlich sich selbst genug ist und mit dem man, wenn überhaupt, nur in der Horizontalen konkurrieren kann. In der Vertikalen verliert man immer."

Deshalb also die Idee mit dem Fußboden. Zwei einander Unbekannte werden dort zusammengebracht: das Publikum und der Raum. Es sind die Besucher, die dem Werk in den kommenden fünf Monaten seinen Charakter verleihen werden. Der Boden wird schmutzig werden, vielleicht treten sich die Schwarz-Weiß-Porträts ab und verschwinden. „Fast wie ein natürlicher ­Alterungsprozess", sagt Roig, der sich nicht als Autor des Werks sieht. „Ich wollte so wenig wie möglich eingreifen", sagt er in seinem Studio in Binissalem, „also habe ich nur den Boden verlegt, auf dem sich das Ganze abspielt". Die Fußabdrücke der Besucher sollen darauf, Pinseln gleich, ein Kunstwerk schaffen.

Verzerrte Gesichter faszinieren Roig schon seit einigen Jahren. Seine lebensgroßen Figuren haben schon in der Kathedrale von Burgos, im IVAM in Valencia oder auf der Biennale von Venedig gelitten. Nie wollen sie, dass man sie ansieht. „Sie scheinen nach innen zu blicken, als ob ihr Innenleben sie mehr interessierte als die Umwelt", sagt Roig, der gerade Ausstellungen in Salzburg und Madrid vorbereitet. In der Residenz­galerie wird Roig an der Kollektiv­ausstellung „Einmal Unterwelt und zurück" teilnehmen, wo zum Thema Hölle, Schattenreich und Jenseits auch Werke von William Blake, Anselm Feuerbach oder Oskar Kokoschka gezeigt werden. Und in der Madrider Stiftung Lázaro Galdiano wird Bernardí Roig als erster zeitgenössischer Künstler überhaupt die rund 20 Säle der vierstöckigen, ehemaligen Familienresidenz gestalten. Das Gebäude stammt aus der Jahrhundertwende, ist von einem dichten Garten umgeben und strahlt allenthalben Üppigkeit aus.

Kein Problem für Bernardí Roig, der seine weißen, menschlichen Figuren – manche Selbstmörder, andere im Sexualakt eingefroren oder von Neonröhren geblendet – in alle möglichen Räume stellt. Roigs Arbeiten rufen beim Betrachter Beklemmung und Angst­zustände hervor. Der Effekt ist besonders stark, wenn die Begegnung nicht in einem neutralen Galerieraum stattfindet, sondern dort, wo Menschen Spuren hinterlassen haben. Erinnerungen an vergessenen Schmerz, an verschwundene Mitmenschen, an das Leid vergangener Generationen ruft er besonders dort wach, wo früher Leben pulsierte.

Deshalb ist das Lonja-Projekt so effektvoll. Die Fotos der Leidenden auf dem Boden, sie wirken wie Grabdeckel, wie Erinnerungen für nachkommende Generationen. Und die Tatsache, dass wir, die Besucher, diese mit eigenen Füßen ausradieren, verleiht der Ausstellung etwas Tragisches. Wir können sie nicht besuchen, ohne sie zugleich zu zerstören.

Die Ausstellung „Walking on faces" ist bis Ende November in der Alten Seehandelsbörse Sa Llotja in Palma zu sehen. (Plaça de la Llotja, 5). Öffnungszeiten: Juli, August, September: 18 bis 24 Uhr. Oktober, November: 10 bis 14 und 17 bis 20 Uhr. Eintritt frei.

Im E-Paper sowie in der Printausgabe vom 12. Juli (Nummer 636) lesen Sie außerdem:

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