Es gibt 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Für Brian Sokol ist das mehr als eine Statistik. Seit neun Jahren reist der 39-Jährige um die Welt, um mit seinen Bildern auf das Leid der Menschen aufmerksam zu machen. Im CaixaForum in Palma ist nun seine Serie „The Most Important Thing" zu sehen. Darin zeigt er Flüchtlinge aus Mali, Süd­sudan, der Zentralafrikanischen Republik und Syrien. Er bat sie, einen Gegenstand in die Kamera zu halten, der für sie essentiell ist und den sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben.

Sie haben Menschen aus verschiedenen Kulturen fotografiert, die in einer ähnlichen Situation waren. Welche Unterschiede gab es?

Ich glaube, viele Unterschiede gehen auf kulturelle Eigenheiten, aber auch auf die geografische Lage zurück. Manche Menschen flüchten wochen- oder monatelang. Die Flüchtlinge aus dem Südsudan zeigten mir eher Werkzeuge zum Überleben: Wasser­kanister oder Schwerter. Die Menschen aus Syrien wählten eher ein symbolisches Objekt aus. Einen Koran oder den Hausschlüssel. Das liegt auch daran, dass die Syrer eine reichere Gesellschaft waren als beispielsweise die Südsudanesen.

Was hat sie am meisten überrascht?

Wie die Leute wieder auf die Beine kommen. Ich habe einen jungen Mann aus der Zentralafrikanischen Republik fotografiert, dessen Mutter auf einem Bett abgeschlachtet wurde, unter dem er versteckt lag. Er wurde komplett von ihrem Blut getränkt. Gleichzeitig war er der fröhlichste Mensch im ganzen Flüchtlingslager, spielte mit seinen Kindern und fischte im Fluss. Man würde erwarten, dass im Flüchtlingslager alle kaputt sind. Aber das Leben da geht weiter.

Wie sind sie bei der Arbeit vorgegangen? Waren die Menschen offen für die Fotos?

Die Idee hat sich während der Arbeit entwickelt. Statt Massen an Flüchtlingen zu zeigen, wollte ich auf die individuellen Geschichten hinweisen. Hinter jeder Story steckt ein ganz normaler Mensch. Ich habe immer zuerst mit den Menschen geredet. Die Kamera kam erst ganz zum Schluss. Manche hatten kein Interesse daran, ihre Geschichte zu erzählen. Aber eine generelle Ab­lehnung habe ich nicht erlebt.

Verfolgen Sie die Geschichten der Leute, die sie fotografiert haben?

Das ist sehr schwierig. In einer zweiten Phase des Projekts würde ich gerne schauen, ob sie in ihre Länder zurückkehren oder permanente Flüchtlinge bleiben. Aber der Zugang ist schwer und vor allem die Finanzierung.

Das ist generell ein Problem. Selbst Starfotografen haben Schwierigkeiten, ihre Arbeit zu finanzieren.

Es wird tatsächlich immer schwieriger. Ich habe im Journalismus angefangen - das kann man heute vergessen. Die Arbeit mit NGOs macht es leichter, da Geld und Zeit da sind, aber es gibt nur eine begrenzte Zahl an Aufträgen und viele Fotografen.

Das Flüchtlingsthema beherrscht die Nachrichten. Wie bewerten Sie Europas Umgang mit derSituation?

Um ehrlich zu sein, kann ich nicht sehr viel dazu sagen. Ich habe die vergangenen fünf Monate im Nepal verbracht, um über die Aufbauarbeiten nach dem Erdbeben zu recherchieren. In den Dörfern dort hatte ich keinen Zugang zu Internet oder internationalen Medien. Europa hat es mit massiven Grenzverletzungen zu tun. Und solange es keine gemeinsame europäische Strategie gibt, wird es sehr schwer, den Bedürfnissen der Menschen, sowohl der Europäer als auch der Flüchtlinge, gerecht zu werden.

Hatten die Flüchtlinge, mit denen Sie gesprochen haben, Europa als Ziel?

Die meisten hatten das Ziel, wieder nach Hause zu können. Die Menschen flüchten nicht, um irgendwelche Sozialsysteme in anderen Ländern zu unterwandern. Sie suchen nach Sicherheit. Es gibt einen Unterschied zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen. Wir müssen uns darauf besinnen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Wir hören immer nur irgendwelche Zahlen und Statistiken. Das Ziel meines Projektes ist zu zeigen, wer diese Menschen sind und warum sie fliehen.

Es hilft dabei, die nötige Empathie aufzubringen.

Europa muss sich bewusst sein, dass es derzeit gerade eine Phase des Friedens und des Wohlstands durchläuft. Historisch gesehen gibt es keinen Ort auf der Welt, der so viele Flüchtlinge produziert hat wie dieser Kontinent. Und niemand kann versprechen, dass die Europäer nicht auch irgendwann wieder flüchten müssen. Manche der Syrer in den Flüchtlingscamps fuhren Monate vor den Fotos noch Mercedes und wohnten in großen Häusern. Flüchtling werden geht sehr schnell.

In den Medien wurde das Bild des kleinen Aylan, der tot in der Türkei an den Strand gespült wurde, kontrovers diskutiert. Sollte man solche Bilder zeigen?

Auf jeden Fall. Aber es war ein hellhäutiger Junge, der in der Nähe von Europa gefunden wurde. In Afrika kann so etwas jeden Tag passieren - ohne dass das so ein Echo hervorruft. Solche Bilder sollten uns darüber reflektieren lassen, warum Menschen solche Risiken eingehen, statt sich nur über die Folgen aufzuregen.

Sie haben das Projekt 2012 begonnen. Wie lange arbeiten sie daran weiter?

Es gibt einen Aspekt, der nicht in der Ausstellung vertreten ist. Da geht es um Menschen, die in Flüchtlingslager geboren werden. In diesem konkreten Fall geht es um Angola. Diese Menschen kehren zurück in ein Land, dass ihre Heimat ist, in dem sie aber noch nie gewesen sind. Das ist ein anderer Aspekt des Themas. Der Anfang der Flucht ist für die Berichterstattung sehr „attraktiv", die langfristigen Folgen nicht so sehr. Ansonsten plane ich auch ein Projekt über Menschen, die wegen sexueller Unterdrückung nach Europa flüchten.