Es sind nur neun Kilometer, die Ibiza von Formentera trennen. Wer sie zurücklegt, tauscht binnen 30 Minuten die Wohnblocks, Diskotheken und Hotelburgen von Ibiza-Stadt gegen die flachen, weißen Würfelhäuser, die Pensionen und Hippiecafés von La Savina ein. Der Hafenort liegt Ibiza zugewandt im Norden und gilt neben dem Touristenörtchen Es Pujols, eine Art Mini-Peguera, als wuseligster Ort Formenteras.

Der Rest, das sind vor allem Sant Francesc und Sant Ferran, zwei nah beieinanderliegende Gemeinden im Inselinneren, wo rund die Hälfte aller Insulaner lebt. Dort hat die Inselverwaltung ihre Büros, dort steht die einzige höhere Schule von Formentera, dort bekommt man von der Kneifzange bis zum Deo alles, was man braucht. In diesen vier Orten spielt sich der Alltag ab.

Der Rest ist durchatmen, schauen und staunen, zumindest zehn Monate im Jahr. Im Juli und August ist auch in El Pilar de La Mola, in Es Caló und den restlichen, sehr kleinen Inselgemeinden viel los, ebenso an den 16 Stränden und vor allem auf den zwei schmalen Hauptstraßen, die die flache Insel durchziehen. Dann wird Formentera überflutet von Touristen; die meisten kommen aus Italien.

Formentera sollte man im Oktober besuchen. Dann muss man sich nicht mehr vor der Sonne verstecken. Das Wasser ist angenehm frisch, die Luft hat sich nach den ersten Herbstgewittern auf rund 25 Grad abgekühlt, und der Staub ist verschwunden. Es gibt wechselnde, intensive Lichtstimmungen, die Sicht ist klar und der Horizont immer gestochen scharf zu sehen. Ideale Bedingungen, um die Insel zu Fuß, auf dem Fahrrad oder beim Meditieren am Strand zu erleben.

Einige wenige tun das seit vielen Jahren, Margarita Sopena zum Beispiel und ihr Bruder Enric. „Für uns ist Formentera Natur pur", schwärmt die 34-jährige Margarita Sopena, die in Madrid in der Presseabteilung einer Technologiefirma arbeitet. „Wir kommen seit 16 Jahren und tanken auf." Die beiden organisieren im Mai und im Oktober eine mehrtägige Inselumwanderung. Sie sind Vorsitzende des Vereins „Amics de Formentera" (Freunde von Formentera) und bieten besondere Erlebnisse, an denen jeder teilnehmen kann (spanischsprachig).

Auf mehreren Etappen entdeckt man die Eigenheiten einer Insel, die auf den ersten Blick karg, trocken­ und flach wirkt, und die sich beim Wandern als üppig, reich bewachsen und doch sehr hügelig herausstellt. Zuerst sieht man die typischen Feigenbäume, die wie Schirme in der rotbraunen Erde stecken und als Schattenspender für Schafe zugeschnitten werden. Die untersten Äste werden gekappt oder auf Holzstöcke gelegt, damit sie waagrecht nach außen wachsen.

Und man wandert zwischen oft windschiefen Kiefern und Wacholderbäumen, zwischen Zistrosen und wildern Pistaziensträuchern, zwischen Rosmarin und Thymian, zwischen gelben und weißen Blümchen, die dicht am Boden wachsen. Am Wegesrand flitzen endemische, smaragdgrüne Pityusen-Eidechsen durchs Gebüsch, über den Köpfen fliegen Möwen, Rotkehlchen, Wiedehopfe, und wer die Route vom Leuchtturm Mola hinunter die Ostküste entlang bis Es Pujols wandert, der kann auch sehen, wo die seltenen Balearischen Sturmtaucher im Frühjahr brüten. Sie sind Europas bedrohteste Seevögel und haben in den Steilklippen an Formentera Südostküste ein Rückzugsgebiet.

Die Tour beginnt beim Leuchtturm, wo sich Jules Verne in den 1870er-Jahren zu seinem fantastischen Roman „Reise durch die Sonnenwelt" inspirieren ließ: Die rundliche Landzunge ragt weit ins Mittelmeer hinaus. Dort platzierte Jules Verne den Wissenschaftler Palmyrin Rosette, der als einer der wenigen eine Naturkatastrophe überlebt. Er droht zu verhungern, schickt eine Brieftaube los und bekommt tatsächlich Besuch von zwei anderen Überlebenden. Gemeinsam erkennen sie, dass sie sich auf einem Kometen befinden.

Tatsächlich wirkt der einzige erhobene Teil der Insel wie von der Welt abgeschnitten. Wer hier oben lebt, verteidigt seine Ruhe mit Händen und Füßen.

Flor Mauger zum Beispiel. Die gebürtige Pariserin gehört zu den Wahl-Insulanern, die mittlerweile fast zwei Drittel der Gesamt­bevölkerung ausmachen. Eine große Gruppe davon sind Hippies, schon in dritter Generation. Sie haben ihre Wurzeln in den 70er-Jahren. Flor lebt seit den 90ern auf La Mola. „Ich kam von Ibiza", sagt sie, „als hier die Straßen noch unasphaltiert waren." Sie hat ihren Lebensstil komplett auf die Insel eingestellt. Ihr Einkommen verdient sie beim Kunsthandwerksmarkt und als Yogalehrerin in Schulen und Hotels.

Zum Beispiel in einem Hotel an der Südküste, wo während der Formentera-Zen-Woche (Mai und Oktober) Meerwassertherapie, Rhythmusgruppen, Malspiele mit Raw Food oder Elemente-Meditation am Strand angeboten werden. Flor führt eine schweigende Gruppe im Gänsemarsch zwischen Kiefern und Dünen vom Hotel zum Strand Migjorn. Dort spricht sie von Chakras und Erde, Wasser und Luft und fordert die Teilnehmer auf, den „Wind durch unser Herz" blasen zu lassen. Die Vorstellung ist anregend, denn tatsächlich fühlt man sich auf dieser Insel wie ein poröses Blatt im Wind, das getrieben und gelüftet wird.

Am besten ist diese Leichtigkeit auf dem Fahrrad zu spüren, im Parque Natural Ses Salines an der Nordküste: In den seichten

Wasserbecken der stillgelegten Saline leben jetzt Tausende Vögel. Flamingos, Stelzenläufer, Schwarzhalstaucher, Seeregenpfeifer, Brandgänse und andere farbenfrohe und aufgeregte Zugvögel geben dem Feuchtgebiet Leben. Das Areal ist Vogelschutzgebiet und bildet ­gemeinsam mit dem Meer nördlich der Insel ein großes Landschaftsschutzgebiet. Während im Hafen Fähren ab- und anlegen und der Alltag seinen Lauf nimmt, spiegeln sich im rosafarbenen Salzwasser Wolkentürme und stellen die herkömmliche Vorstellung von unten und oben auf den Kopf.