In Deutschland gibt es kaum einen Fluss, See oder Weinberg, an dem man nicht auf einem idyllischen Weg entlangradeln könnte. Auch auf Mallorca mangelt es nicht an idyllischer Landschaft. Nur leider existieren so gut wie keine Radwege - zumindest kaum welche, die nicht direkt an einer viel befahrenen Straße verlaufen. Mit dem 28,6 Kilometer langen „grünen Korridor" zwischen Manacor und Artà wird sich das ändern. Fast eben führt er vorbei an Feldern und Wiesen, Schafherden und Hühnerställen, Orangen- und Feigen­bäumen. Offiziell eröffnet werden soll das neue Eldorado für Radler und Wanderer zwar erst im September - doch schon jetzt tummeln sich vor allem Mountainbiker auf der Strecke.

Dicke Reifen mit ordentlichem Profil sind derzeit auch noch unabdingbar, gilt es doch so manchen unvollendeten und dementsprechend holprigen Abschnitt zu überwinden. Auch der ein oder andere Bauzaun findet sich noch entlang der Strecke, denn eigentlich ist es noch gar nicht erlaubt, den Weg zu benutzen. ­Richtig verboten ist es allerdings auch nicht. Das balearische Umweltministerium teilt auf Nachfrage lediglich mit: Wer dort unterwegs sei, tue dies auf eigene Gefahr.

Wir wagen also den Versuch. Startpunkt ist - in unserem Fall nach der Anreise mit der Bahn - die Plaça Madrid, ein Kreisverkehr am Stadtrand von Manacor. Gegenüber des Eroski-Supermarkts an der Straße nach Sant Llorenç geht nach rechts eine Schotterpiste ab. Die Stelle ist nicht zu verfehlen: Es lugen noch Schienenreste aus dem Boden - hier fuhren einmal Züge. Und theoretisch hätten sie das wieder tun sollen, wäre das Bahnprojekt der zweiten Mitte-Links-Regierung von Ministerpräsident Francesc Antich (2007-2011) nicht nach dem Regierungswechsel auf Eis gelegt und schließlich von der Volkspartei PP begraben worden.

Da in das Vorhaben bis zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 50 Millionen Euro geflossen waren, suchte die Landesregierung nach alternativen Nutzungsmöglichkeiten. Zunächst war eine Schnellbustrasse im Gespräch, dann kam man auf den Wander- und Radweg. Im September 2013 wurden die erforderlichen Umbauarbeiten - Kostenpunkt 5,5 Millionen Euro - ausgeschrieben, im März 2014 rückten, knapp drei Jahre nach dem Baustopp, erneut die Bagger an. Laut Umweltministerium haben sie inzwischen 80 Prozent des „Korridors" mit Erdreich aufgeschüttet und in Form gebracht, sodass der Weg problemlos befahrbar ist. Und auf den restlichen 20 Prozent ist eben Improvisation angesagt.

Die erste derartige Stelle erreicht man bereits nach rund 200 Metern. Weil dort offensichtlich eine Brücke geplant war, die nie gebaut wurde, steht eine kleine Kletterpartie samt Fahrrad bevor: einen Abhang in ein trockenes Bachbett hinab und auf der anderen Seite wieder hinauf. Die folgenden Kilometer trifft man noch ein paar Mal auf nicht vollendete Brücken, die aber alle problemlos umfahren werden können - wem der Pfad den Hang hinunter zu steil ist, steigt notfalls einfach ab. Ein weiterer unfreiwilliger Stopp ist ein Stück weiter an einer Stelle nötig, wo die Trasse von hohen Erdwällen gesäumt ist, zwischen denen sich eine gut 20 Meter lange Pfütze gebildet hat. Doch auch dieses Hindernis ist mit ein wenig Geschick zu meistern.

Nach einem Tunnel, den man quasi im Blindflug passiert - in der Hoffnung, dass in der Dunkelheit keine allzu großen Schlaglöcher lauern, taucht dann auch schon der Bahnhof von Sant Llorenç auf. Es ist die erste von drei Stationen auf dem Weg nach Artà. Das Bahnhofsgebäude stammt noch aus alten Zeiten,weshalb die steinerne Inschrift „San Lorenzo" auch in Spanisch verfasst ist, während heutzutage alle Orts- oder Straßennamen auf Katalanisch angegeben werden.

Einige der bereits in das Bahnprojekt investierten Millionen sind seinerzeit offensichtlich hierher geflossen: Die Gebäude samt aus Naturstein errichtetem Toilettenhäuschen wurden säuberlichst renoviert und mit einem modernen Anbau versehen, in dem nigelnagelneue Schreibtische darauf warten, dass sich jemand an ihnen niederlässt. Neben dem Eingang zum Wartesaal bescheinigt ein Schild der Balearen-Regierung, dass Ministerpräsident Antich den Bahnhof 2009 eingeweiht hat. Doch der einzige Zug, den man seither hier zu sehen bekommen hat, ist eine kunterbunte Mini-Eisenbahn auf dem Spielplatz hinter dem ­Bahnsteig. Die Spielgeräte wirken so jungfräulich, dass mancher Gemeinderat auf der Insel angesichts der eigenen maroden Wippen und Rutschen darauf neidisch sein dürfte.

Mit dem Dorf Sant Llorenç im Rücken wird die Fahrt allmählich gemütlicher. Der Abschnitt nach Son Carrió ist dem Umweltministerium zufolge derjenige, der am weitesten fertiggestellt ist. Dort seien bereits sämtliche Bäume gepflanzt. Insgesamt sollen den Weg einmal rund 6.000 Kiefern, Steineichen und Maulbeerbäume säumen. In ein paar Wochen sollten sie alle eingesetzt sein. Noch nichts zu sehen ist bislang hingegen von den neun geplanten Picknickplätzen, auch die Beschilderung fehlt noch. Bis September soll auch das fertig sein, so heißt es. Zudem würden noch stellenweise Holzgeländer angebracht und die Abhänge abgesichert und mit Sträuchern begrünt.

Der nächste Geisterbahnhof ist die Station von Son Carrió, an deren Fassade wegen des ursprünglich vollständigen Ortsnamens Sant Miquel de Son Carrió „San Miguel" steht. In die Restaurierung ist offenbar ebenfalls ein Batzen Geld ­geflossen - wenn auch nur ein Bruchteil der Summe, den das Betonungetüm einige Hundert Meter zuvor gekostet haben dürfte. Hierbei handelt sich um ein Depot, in dem die nun vermutlich nie verkehrenden Züge geparkt und gewartet werden sollten. Inzwischen haben sich dort Mallorcas Eisenbahnfreunde mitsamt einer beachtlichen Sammlung historischer Loks und Waggons einquartiert, an denen eifrig gebastelt wird.

So denn zufällig einer der Bahn-Nostalgiker da ist, wenn man des Weges kommt, darf man gerne einen Blick in die Halle werfen. Ansonsten muss man sich mit einem mit Graffiti überzogenen Zug vor dem Depot begnügen, der 2010 dort abgeladen wurde, nachdem er auf der Strecke Manacor-Palma verunglückte. Seitdem gammelt er, das desolate Bild vervollständigend, vor sich hin - wobei ihn immerhin die Dorfjugend als Treffpunkt und so manches Pärchen, den leeren Kondompackungen zufolge, als Liebesnest zu nutzen scheint.

Von Son Carrió aus geht es schließlich weiter Richtung Nordosten. Vom einstigen Bahndamm aus lässt sich in stattliche Anwesen mit verlockenden Pools blicken, in denen man sich angesichts der zwar nur ganz leichten, aber steten Steigung Richtung Artà allzu gern eine kleine Abkühlung verschaffen möchte. Auch allerlei Getier, von Truthähnen über Esel und Ziegen bis hin zu kleinen Ferkeln, gibt es am Wegesrand zu bestaunen. Eine kleine Schlange verschwindet gerade noch rechtzeitig im Gras, bevor der Vorderreifen sie überrollt hätte. Schließlich kommt uns ein Pferd samt Reiter entgegen. Ja, der grüne Korridor sei auch dafür ideal, sagt Pep Bauzá, Sprecher der Stadt Manacor. „In erster Linie ist er aber natürlich für Spaziergänger, Wanderer und Radfahrer gedacht."

Am Horizont ist nun bereits das Meer zu sehen. Und bald auch die hässlichen Hotelburgen von Cala Millor. Für einen Sprung ins Wasser oder ein Eis lohnt es sich dennoch, schnell einen Abstecher an den Strand des Urlaubsortes zu machen - am besten von der Siedlung Son Moro Bonavista aus, wo eine kleine Straße den Radweg kreuzt. Anschließend ist allerdings kräftiges Strampeln angesagt, um wieder zurück zur Bahntrasse zu gelangen.

Die führt einen nach rund einem Kilometer zum Geisterbahnhof Nummer drei in Son Servera. Ein paar Jugendliche haben sich hier zu einem nachmittäglichen Umtrunk versammelt und wirken richtig­gehend ertappt, als auf einmal ein paar Radfahrer auftauchen. Nach einem weiteren Tunnel, einer fast fertigen Brücke und einer lang gezogenen, leicht abschüssige Linkskurve - wäre man ein ICE würde man sich nach links neigen - sind in der Ferne bereits die Berge des Llevant-Naturparks zu sehen.

Kurz darauf taucht auch schon die Burg von Artà auf. Doch gerade als wir zum Endspurt ansetzen wollen, stoßen wir auf ein letztes Hindernis: eine Absperrung vor einem kleinen Graben, an dem sich der breite Weg zu einem Trampelpfad verengt. Danach geht es geradeaus bis in den Ort. Nur die Einfahrt in den Bahnhof bleibt einem verwehrt. Er ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Aber das tut einem Radweg, im Gegensatz zu einer Zugstrecke, schließlich keinen Abbruch.

Wo Millionen in den Sand gesetzt wurden

Von 1921 bis 1964 fuhr eine Dampflok die 33 Kilometer lange Strecke von Manacors Bahnhof nach Artà. Danach wurde sie durch einen Dieselzug ersetzt, dessen Betrieb mangels Wirtschaftlichkeit 1977 eingestellt wurde.

30 Jahre später präsentierte die Mitte-Links-Regierung unter Francesc Antich kurz nach ­Regierungsantritt 2007 Pläne, entlang der alten Streckenführung ein neues, breiteres Betonbett zu errichten, auf dem ab 2011 Elektrozüge verkehren sollten. Die Baukosten wurden auf rund 100 Millionen Euro beziffert, etwa 800 Grundstücke entlang der zwischen acht und 14 Meter breiten Trasse und einer Nebenstraße mussten teilenteignet werden. Innerhalb kürzester Zeit formierte sich Widerstand, es bildeten sich zwei Bürgerinitiativen, denen sich auch viele deutsche Anrainer der Zugstrecke anschlossen. Nachdem 2011 die Volkspartei an die Macht kam, die seit jeher mehr auf Straßenbau als auf öffentlichen Nahverkehr setzt, wurde das Bahnprojekt wegen Geldmangels und fraglicher Rentabilität auf Eis gelegt und nach mehr als einjähriger Bedenkzeit endgültig begraben. Zur Fertigstellung hätten damals noch geschätzte 150 Millionen Euro gefehlt. Der amtierende Verkehrsminister Biel Company warf der Vorgängerregierung vor, dass sie den Startschuss für ein über 200 Millionen Euro teures Projekt gegeben habe, obwohl man aus Madrid nur Finanzierungszusagen über 57,5 Millionen hatte. Die Bürgermeister von Sant Llorenç, Son Servera und Artà wie auch die Bürgerinitiative „Tren de Llevant" verteidigen die Pläne noch heute. Die Zugverbindung würde wichtige Impulse für Wirtschaft und Tourismus bringen und die Mobilität der Bewohner im Inselosten deutlich verbessern.