Die Frage nach Grenzen, Migration und Identität sind womöglich aktueller denn je. Und gerade auf Mallorca, diesem paradiesischen Felsen Sehnsucht für Touristen, Auswanderer, Arbeitssuchende, Flüchtlinge. Auf den viele Anspruch erheben und den nicht wenige ausnehmen wollen.

Wie sich Künstler mit diesen Fragen auseinandersetzen, zeigt seit vergangener Woche das Kunstmuseum Es Baluard mit der Ausstellung „On anam?" (Wohin gehen wir?). Zusammengestellt von der argentinischen Kuratorin Sonia Becce ist hier einiges richtig gemacht worden. Zum einen verzichtet Becce auf den in diesem Haus häufig anzutreffenden Regionalismus. Nur eine einzige Spanierin ist unter den sechs Künstlern dabei, und warum das witzig ist, soll gleich erklärt werden. Zum anderen fixiert sich die Kuratorin nicht auf ein Thema wie etwa Flucht und Vertreibung. Sie stellt die Ausstellung in Form und Inhalt breit auf, ohne zu überladen.

Am auffälligsten ist eine Arbeit der Brasilianerin Carmela Gross. Auf Blechplaketten hat sie die Namen, das Alter und die Herkunft von 206 Immigranten verewigt, die im 19. Jahrhundert nach São Paulo kamen. Es sind viele Deutsche dabei, viele ­Japaner. Kleinkinder genauso wie Greise. Sie stellen auf stille Weise die Vielfalt dar, die Brasilien bis heute prägt. Und laden dazu ein, sich Gedanken über diese Menschen zu machen. Wer sie wohl waren und warum sie wohl ­auswanderten.

Während diese Menschen eine neue Heimat suchten, geht ­Núria Güell den entgegengesetzten Weg. Sie kehrt ihrer Heimat sozusagen den Rücken und beantragt, dass ihr die spanische Staatsbürgerschaft aberkannt wird, um fortan staatenlos zu sein. „Ich habe nie einen Vertrag unterschrieben, in dem ich den Staat als Heimat anerkenne" ist eines der Argumente, das sie ihrer Peti­tion voraus­schickt. In der Ausstellung ist auch in voller Länge die Antwort der spanischen Meldebehörde zu lesen, begleitet von Kommentaren der Künstlerin. Wenn man mit der Lektüre fertig ist, kommt einem die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Nationalität nicht mehr ganz so abwegig vor wie vielleicht am Anfang. Denn was ist etwa das Recht der ­Freiheit zur persönlichen Entfaltung, wenn sie durch die Zugehörigkeit zu einem Staat geprägt ist, von dem man nichts wissen will?

Weitaus abstrakter ist die Arbeit des bereits 1996 verstorbenen, kubanischen Künstlers Félix González-Torres, auf den sich die Kuratorin spezialisiert hat. So ist zum Beispiel ein Haufen Bonbons an einer Wand aufgeschüttet, und mitten im Raum stehen zwei Stapel Papiere. Hier steckt die Thematik der Migration eher in der Biografie des Künstlers, der als Kind häufig von einem Land zum nächsten, von einem Verwandten zum anderen umgesiedelt wurde.

Bestechend ist auch die Arbeit des Bulgaren Ergin Çavu?o?lu, der in seinen Arbeiten häufig Migrations­erfahrungen verarbeitet. In der 2009 entstandenen Videoinstallation „Liminal Crossing", die auf zwei Bildschirmen gezeigt wird, stellt er die reale Geschichte einer Gruppe Flüchtlinge der türkischen Minderheit in Bulgarien dar, die versucht, die Grenze zwischen beiden Ländern zu überqueren. Sie durften nur einen Gegenstand mitnehmen und entschieden sich für ein Klavier. Langsam ziehen sie mit versteinerten Gesichtern wie ein Trauermarsch durch ein neonbeleuchtetes, trostloses Grenzgebiet.

Ergänzt werden diese Arbeiten durch zwei Fotografien von Flüchtlingen aus dem Libanon von Walid Raad - The Atlas Group und durch eine Video­installation des Brasilianers Paolo Nazareth, in dem ein Mann in Afrika Erde isst, auf der Suche nach der Identität und seinen Vorfahren.

Die Ausstellung ist angenehm unfertig, die einzelnen Arbeiten sind nur durch lose Anknüpfungspunkte miteinander verknüpft und ergeben doch ein spannendes Gesamtbild. Gekonnt stellt Becce mit der Auswahl der Arbeiten heraus, wie sehr die Fragen nach Identität, Migration und Zugehörigkeit nicht nur persönlich, sondern größtmöglich intim sind. Und wie sie doch nicht ohne den globalen Kontext verstanden und gelöst werden können.

Das ist wichtig, denn in ein ­anderes Land zu ziehen, stellt immer eine Bedrohung dar - und wenn es nur für das eigene Selbstverständnis ist. Und dadurch entstehen Widersprüche. Vielleicht lässt sich das nirgendwo so konzen­triert erleben wie auf Mallorca. Wo Menschen aus Mittel­europa, die hergekommen sind auf der Suche nach einem besseren Leben - und sei es nur eins ohne Kälte -, in starrer Ablehnung verharren, wenn Menschen aus noch südlicheren Ländern ebenfalls ihr Glück - und sei es nur ein Leben ohne Massaker - auf der Insel suchen.

Insofern ist „On anam?" ein absoluter Glücksfall für die Insel. Er sollte der Anfang einer Konversation sein. Mindestens.

On anam?, Museum Es Baluard, bis 1.4.2018