Sie ist gerade einmal 32 Jahre alt und scheint längst seelenruhig über den Dingen zu stehen. Über Kritik sowieso. Die ist ihr sogar willkommen, sie wäre nicht zufrieden ohne sie. „Das würde bedeuten, dass ich nichts bewirke", sagte sie einmal der „Opinión de Málaga". „Mein Ziel ist, die Fantasie anzuregen und die Zuschauer dazu zu bewegen, etwas zu verstehen, das zunächst keinen Sinn zu ergeben scheint." Am 21. Oktober zeigt sie „Caída del Cielo" im Teatre Principal in Palma. Es sei ihr bislang gewagtestes und provokantestes Stück, so die ohnehin für ihre Waghalsigkeit bekannte Ausnahmetänzerin.Aus den Eierstöcken getanzt

Neue Werke entwickelt Rocío Molina immer als Fortsetzung ihres Vorgängers. In „Bosque Ardora" (2014) ging sie mit sechs Männern auf die Bühne und tanzte mit Eduardo Guerrero und Fernando Jiménez im animalischen Reigen. „Caída del Cielo" ist Rocío Molinas zwölftes Stück. Diesmal geht es um Licht und Schatten der Weiblichkeit. Das Werk sei aus ihren Eierstöcken he­raus entstanden, so die Künstlerin.

Dahinter verbirgt sich nicht nur Provokation, sondern eine Begegnung bei einem Tanz-Workshop, den Molina in einem Frauen­gefängnis in Frankreich gab. Sie fragte die Insassinnen, woher sie die Kraft nehmen, die Haft auszuhalten. Eine der Frauen zeigte auf ihre Eierstöcke. Die Geste beeindruckte die Künstlerin und sie begann, über ihre weibliche Identität nachzudenken. „'Caída del Cielo' spielt damit, was es bedeutet, eine Frau zu sein, in jeglicher Hinsicht. Wenn ich zum Beispiel eine besonders starke Regelblutung bekomme, woher kommt in diesem Augenblick meine Kraft?", fragt sie.Die Lustvolle

Molina beschäftigt sich gern mit der Dualität. Ihr neues Stück hat sie gemeinsam mit dem Dramaturgen Carlos Marquerie als Diptychon aufgebaut, unter anderem inspiriert von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste" und der Groteske. Die Hölle sei ihr attraktiver erschienen als der Himmel. Der bis zur Langeweile reizenden Harmonie stehe zwar Schmerz, aber eben auch Lebendigkeit gegenüber, voller Sex, Festgelage und Musik.

Auf der Bühne beginnt der Fall aus dem Himmel ganz in Weiß, Hintergrund, Boden, Stühle der Musiker und die bata de cola - das flamencotypische Kleid mit Schleppe - von Rocío Molina. Sie betritt die Bühne ohne Musiker, in Stille, bricht mit Bewegungen auf dem Boden mit der vertikalen Ausrichtung des Flamencos, zieht mit überperfekten Posen grotesk-sterile Vorstellungen des Weiblichen durch den Kakao und bei einer Aufführung in Nimes im Januar auch die Lacher des Publikums auf sich.

Es folgt eine Reise in die Dunkelheit, hin zu gelebter Weiblichkeit. Mal tanzt Molina im Torero-Kostüm betont männlich im Schein eines künstlichen Monds, mal hantiert sie radikal sexuell mit einem Stock, mal mit in blutrote Farbe getauchter Plastik-Schleppe. Ja, das ist eine Referenz an die Menstruation und durchaus eine Ansage für die immer noch vom Machismo geprägten Flamenco-Welt. Und sie fällt, immer und immer wieder. Auf das Gesicht, den Hintern, den Rücken - wer schreitet schon durchweg elegant und unerschüttert durchs Leben?

Das Wunderkind

Ob in „Caída del Cielo" oder überhaupt: Was Rocío Molina macht, ist meistens nicht ganz leicht verdaulich und gefällt nicht allen, erbitterten Flamenco-Traditionalisten am wenigsten. Doch Gespräche über sie umweht meist ein Hauch von Ehrfurcht. Ihre technische Versiertheit ist unbestritten. Auch für Manuel Betanzos, selbst renommierter Flamenco-Choreograf und Lehrer. In seiner Schule in Sevilla hat Molina schon mehrfach unterrichtet. Auf die Tänzerin angesprochen wird er merklich still und formuliert mit Bedacht: „Sie ist eine Außerirdische. Was sie macht, würde ich in hundert Jahren nicht schaffen. Sie lässt das Unmögliche leicht erscheinen." Er sei ein treuer Fan, trotzdem verstehe er ihre Arbeit nur teilweise.

Die 1984 in Málaga geborene Flamenco-Provokateurin hat das komplexe Genre früh, mit beeindruckender Gelassenheit und furios gemeistert. Rocío Molinas tänzerischer Werdegang liest sich schon jetzt wie ein Mythos: Mit drei Jahren beginnt sie zu tanzen. Mit sieben entwirft sie ihre ersten eigenen Choreografien und wird bereits als Wunderkind gefeiert. Mit 17 schließt sie die Ausbildung am Real Conservatorio de Danza in Madrid mit Auszeichnung ab und geht mit namhaften Künstlern auf internationale Tourneen.

Die Überfliegerin

Ihr erstes eigenes Stück bringt Rocío Molina mit gerade einmal 22 Jahren zur Uraufführung. Seither wirbelt sie die teils etwas vehement auf Tradition pochende Flamenco-Welt gehörig auf. 2010 gewinnt sie den Nationalen Tanzpreis. Zwei Jahre später fällt der legendäre Mikhail Baryshnikov nach einer Vorstellung von „Oro Viejo" im New York City Center vor ihr auf die Knie. Heute ist Rocío Molina 32 und steht längst für einen eigenen Stil. Sie sei eine der wichtigsten Vertreterinnen des „theatralen Neoflamenco", heißt es häufiger.

Rocío Molina, die sich selbst immer als flamenca bezeichnet und so fühlt, macht sich frei von Etiketten. Auf Kategorisierungsversuche angesprochen, sagt sie: „Ich bin weder traditionell, noch neoklassisch. Meine Arbeit ist einfach persönlich. Ich fühle mich frei." Für die Tänzerin führen Definitionen immer auch zu kreativen Grenzen. An diesen zu rütteln gehört für Rocío Molina zum künstlerischen Selbstverständnis.

Rocío Molina zeigt „Caída del Cielo" am 21. Oktober um 20 Uhr im Teatre Principal in Palma, Eintritt: 8 bis 30 Euro.

Veranstaltungskalender: Was sonst noch los ist auf Mallorca