Wer die Nuancen einer Fremd­sprache meistert, hat Zugang zu den tieferen Schichten eines Landes und seiner Kultur. Das spanische Ay besteht aus einer Silbe und ist doch Empfindungswort mit mannig­faltigen Bedeutungen. Genau das hatte wohl die Tänzerin Eva Yerbabuena für ihr Stück „¡Ay!" im Sinn, mit dem sie an diesem Samstag (28.11.) im Auditorium von Palma gastiert.

Im Flamenco drückt der Ausruf zunächst einmal häufig Trauer, Wut oder Wehklagen aus: Bevor die Sänger ihre Strophen singen, begleiten sie die Gitarre einige Takte lang nur mit melancholischem Ayayay. Eva Yerbabuena, die zu den ganz großen Tänzerinnen des Genres zählt, erinnert die Silbe darüber hinaus aber auch an ihre jüngste Tochter Marieta und ein entgegen­gesetztes emotionales Spektrum.

Die Schwangerschaft zwang die Künstlerin vor vier Jahren zu einer 13-monatigen Auszeit vom Flamenco. „Ich habe mich voll und ganz auf das Muttersein konzentriert, Bücher gelesen, über mein Leben nachgedacht und darüber, was als nächstes kommt", sagt die 45-Jährige in einem Youtube-Interview. Und: „Einer der ersten Laute, den Marieta von sich gegeben hat, war ein sehr liebevolles ay." Die Tochter kuschelte sich an die Mutter, ein Moment der Intimität und Zuneigung.

Es war dann die Idee von Paco Jarano - Evas Mann, Marietas Vater, Gitarrist und musikalischer Leiter ihrer Kompagnie - das nächste Stück „¡Ay!" zu nennen. Sein Frau war begeistert, zumal sie mit dem Ausruf „auch eine freudige Nachricht" oder „einen Seufzer" verbindet. Im März 2013 feierte das Stück in London Premiere. Eva Yerbabuena wird darin von drei Sängern, Gitarre und Perkussion begleitet, und erstmals in ihrer Karriere von einer Geige, aber ohne zusätzliche Tänzer. „Ich wollte, dass die Choreografie und die Musik sehr präsent sind und die Aufmerksamkeit darauf lenken, worauf man bei einem Stück mit großer Besetzung nicht achtet", sagt sie.

Das Licht spiele eine große Rolle und würde ihre Kostüme geradezu zum Leuchten bringen - obwohl sie durchweg schwarz sind, sagt die Tänzerin. Auch die Requisiten sind gekonnt in Szene gesetzt: Ein Tisch, der sich in der Mitte teilt, und der übergroße, expressionistische Stuhl, auf dessen Sitzfläche Yerbabuena taconeos (Fußteile) zeigt, während ein Musiker die Rhythmen auf die Lehne klopft und so der Szene zusätzliche Komplexität verleiht. Danach erklimmt die Tänzerin selbst die Rückenlehne und imitiert mit den Armen den frenetischen Flügelschlag eines Vogels. Dazu klingt die Geige in schrillem Stakkato und erinnert ein wenig an die berühmte Mordszene in der Dusche in „Psycho". „Ich wollte, dass ¡Ay! sehr intim und minimalistisch wird", sagt ­Yerbabunea. „Muy yo", also, „sehr ich".

Man sieht schon: Ein althergebrachter Flamenco-Abend ist das nicht. Traditionalisten werden sich wahrscheinlich besonders mit der ersten Hälfte des Stücks schwertun. Wie auch Israel Galván und Rocío Molina hat Eva Yerbabuena den Nationalen Tanzpreis gewonnen und trägt die Kunstform über ihre traditionellen Grenzen hinaus. „Ich bin flamenca, ich bin Tänzerin, aber ich lasse mich nicht einschränken", sagt sie.

Ihre erste eigene Kompagnie gründete sie mit 18 Jahren. Sie studierte Choreografie in Havanna und hat auch schon mit Mikhail Baryshnikov und Pina Bausch zusammengearbeitet, die sie zu ihren großen Vorbildern zählt.

Der Einfluss anderer Genres ist in „¡Ay!" denn auch deutlich sichtbar. Die Künstlerin setzt in dem Stück auf den Gegensatz zweier „so ungleicher wie einzigartiger Szenerien", wie es auf der Website heißt. „Wenn ich etwas mit einer bestimmten Bewegung erzählen muss, lasse ich mich nicht einschränken, nur weil sie aus dem zeitgenössischen Tanz kommt, das ist doch absurd", so die Tänzerin.

Im zweiten Teil kehrt „¡Ay!" zum traditionellen Flamenco zurück, das Finale ist eine fulminante seguiriya, eine der schweren, dramatischen Liedformen (palos) im Flamenco. Bei Eva Yerbabuena singen die drei Sänger schließlich im Kanon ay. Die Tänzerin wirbelt dazu ihren mantón, das bestickte Dreieckstuch, ein klassisches Flamenco-Accessoire.

Es sei gerade der Anschein, dass sie den Kontext des Flamenco verlasse, wodurch sie dessen Essenz vertiefe und ihn gewissermaßen befreie, schreibt Eva Yerbabuena auf ihrer Website. „Ich glaube fest daran: Es gibt nichts Zeitgenössischeres als den Flamenco an sich."

Eva Yerbabuena zeigt ¡Ay! am 28. November um 21.30 Uhr im Palma Auditorium, Eintritt: 28 Euro.