Es ist still, helle Lichtflecken fallen durch die hohen, gotischen Fenster und legen sich auf weißen Marmor, modellieren die Form des menschlichen Gehirns. Man denkt an Erleuchtungen oder erhellende Einfälle, wenn man die Ausstellung „Zeno Brains and Oracle Stones" in der alten, lichtdurchfluteten Seehandelsbörse von Palma besucht. Jan Fabre, einer der größten Künstler unseres Kontinents, zeigt hier bis Ende des Jahres neun Skulpturen, die meisten davon aus Marmor.

Sie heißen „Denkmodell" oder „Das Universum getragen von einer Schildkröte" und zeigen lebensgroße Schildkröten, die versuchen, ein überdimensioniertes Gehirn zu verschieben, oder rücklings darauf liegen und hilflos die Beine in die Luft strecken. Die geistige Kraft sei stärker als die physische, behauptet Fabre. Im Titel der Ausstellung verweist der Flame auf den griechischen Philosophen Zenon von Elea, der über die Unendlichkeit und das Verhältnis von Raum, Zeit und Bewegung nachgedacht hat.

„Ich wurde mit Schildkröten groß", sagte Fabre, „sie sind das Gedächtnis der Menschheit, sie sind wie lebende Orakelsteine." Befragt hätte man die Panzer­tiere gerne, zu dem, was denn im Gehirn des 55-jährigen Künstlers abläuft, der nicht nur Skulpturen schafft und zeichnet, sondern auch Bühnenstücke schreibt, als Regisseur, Choreograph und Performer erfolgreich ist, 2008 als erster lebender Künstler im Louvre eine Einzelausstellung bestritt und 2016 auch in der Eremitage von Sankt Petersburg als Erster eine Einzelausstellung haben wird.

Sehr viel passiere in seinem Gehirn, sagt er, wenn er denkt und zeichnet, nachts. „Ich verbringe viel Zeit allein, dann schreibe und zeichne ich." Wenn andere schlafen, kommen ihm die Ideen, für deren Umsetzung der multidisziplinäre Künstler später die beste Form wählt. „Ich leide unter Schlaf­losigkeit, die hat mir meine Mutter vererbt", sagt er schmunzelnd, „ich schlafe nur zwei bis drei Stunden." Dafür wirkt Fabre sehr präsent.

„Er ist ein Besessener", sagt der Wiener Galerist Mario Mauroner, „ein echter Arbeiter, ein sehr intensiver Mensch." Mauroner hat die Ausstellung in Palma mit dem balearischen Kulturinstitut IEB organisiert. Zuvor waren Arbeiten von Bernardí Roig, Fabrizio Plessi oder Tony Cragg in der Lotja gezeigt worden, die alle Mauroner vertritt.

Einheimischen Künstlern vom AAVIB-Verband ist das sauer aufgestoßen. Warum man denn im exponiertesten Ausstellungsort der Balearen nicht mehr für die Inselkunst täte, war der Tenor eines kritischen Kommuniqués, das Anfang Juli an die Medien ging.

Solche Vorwürfe tauchen andernorts kaum auf - wer freut sich nicht, hochkarätige Kunst vor der Haustür genießen zu können? Die Ausstellung mit Bernardí Roig haben rund 240.000 Menschen gesehen, bei Tony Cragg wurden 225.000 Besucher gezählt.

Nun also Fabre. Die bis zu vier Tonnen schweren Skulpturen, die zuvor teilweise bei Mauroner in Wien gezeigt worden waren, haben Steinmetze nach Tonmodellen des Künstlers gemeißelt. Fabre betreibt in seiner Heimatstadt Antwerpen eine Kulturfabrik, wo ein Atelier und eine Probebühne untergebracht sind und fast 20 Mitarbeiter wirken. Trotzdem sagt Fabre, er mache immer noch 85 Prozent seiner Kunst selbst.

Die Verbindung von weißem Carrara-Marmor, den Renaissancekünstler wie Michelangelo berühmt gemacht haben, den langsamen Tieren und dem menschlichen Denkorgan ist inspirierend: Wollte Jan Fabre seinem eigenen Ideenschatz ein Denkmal setzen? Würdigt er des Menschen geistige Spannkraft? Ehrt er die Schildkröten als Überlieferer allen Gedankenguts? Oder ist es einfach nur so, dass Fabre nun, da er wohlhabend und weltbekannt ist, sich eine Ausstellung in teurem Marmor gönnt? „Das sind die Vorteile des Älterwerdens", sagt er in der Lotja, „ich kann all meine Kugelschreiberzeichnungen, all meine Skizzen nun in großen Formaten realisieren."

Jan Fabre: Zeno Brains and Oracle Stones. Seehandelsbörse, Plaça de sa Llotja, 5. Dienstags bis sonntags, 18-24 Uhr. Eintritt frei. Bis Ende Dezember 2014.

Kunst an der Grenze

Jan Fabre wurde 1958 als Sohn des Insektenforschers Jean Henri Fabre in der belgischen Stadt Antwerpen geboren. Als junger Künstler machte er erstmals Ende der 1970er Jahre auf sich aufmerksam, nachdem er an der Kunstgewerbsschule und der Kunstakademie seiner Heimatstadt studiert hatte.

So verbrannte er auf der Bühne echtes Geld („Money-performances", 1977) , bemalte die Bühne mit seinem eigenen Blut („My body, my blood, my landscape", 1978) oder verbrachte drei Tage und Nächte in einem weißen Würfel, den er mit blauem Kugelschreiber nach und nach bemalte (´The Bic-Art Room´, 1980).

Schon früh fand Fabre seinen Stil, der an inhaltliche, formale und emotionale Grenzen drängt. Seine Performances, Bühnenstücke und Skulpturen zeigen einen Menschen, der schonungslos nach Wahrheiten und Einsichten sucht - und nach Aufmerksamkeit.

Seine fast 40 Bühnenstücke und die Skulpturen und Bilder bieten dem Betrachter Effekt, Provokation, Spannung und Tiefgang. Fabres Werk verbindet Genres und ist oft multimedial angelegt. Wiederkehrende Themen sind Schmerz, Exzess, Verwandlung und Tod sowie Insekten, der menschliche Körper und neuerdings das Gehirn.

Jan Fabre hat viermal an der Biennale von Venedig und einmal an der documenta in Kassel teilgenommen. Drei Galeristen vertreten ihn weltweit, seine Ausstellungen gehen normalerweise auf Wanderschaft durch die Welt. (www.janfabre.be).

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